Was sind Rollenspiele?

Rollenspiele sind eigentlich nur eine fortgeschrittene Form von Brettspielen. Tatsächlich sind sie so fortgeschritten, daß sie keine Spielbretter mehr verwenden. Einige Elemente sind gleich geblieben: Nach wie vor benötigen Sie Papier & Bleistift, Würfel & SpielerInnen, doch das Wichtigste, das Sie brauchen, um Rollenspiele zu spielen, ist PHANTASIE. Gehen wir schrittweise vor:

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Denken Sie sich eine große, dunkle Höhle. Wasserrinnsale tröpfeln die Felswände hinunter & sammeln sich in dunklen Pfützen am Boden. Ein beständiges Tropfen ist zu hören, dessen Echo aus einer Grotte zur Linken widerhallt. Gegenüber befindet sich eine unruhig im Windzug flackernde Fackel in einer ehernen Halterung, deren unstetes Licht wirre Muster an Wände und Decke zeichnet.

Können Sie sich die Szene ausmalen? Versuchen Sie, dieses geistige Bild im Kopf zu behalten. Es macht nichts, wenn Sie die Einzelheiten vergessen. Eines der großartigen Dinge am Rollenspielen ist die Art, wie sich das Gedächtnis für diese De-tails mit der Zeit verbessert. Nun sind wir bereit für den nächsten Schritt.

Stellen Sie sich die Ausgestaltung vor: Gegenüber in der Höhle, den Fackelschein in tausenden von glitzernden Schuppen reflektierend, ruht ein gigantischer, smaragdfarbender Drache. Die ledrigen Schwingen über dem Rücken gefaltet, beben die untertassengroßen Nüstern langsam, während das riesige Haupt des Lindwurms auf den mit messerscharfen Krallen bewehrten Klauen ruht. Doch noch ein weiteres Glitzern erfüllt die Grotte… Der sagenumwobene Drachenhort!

Nun, da wir die Szenerie ausgestaltet haben, ist der nächste Schritt, herauszufinden, wie SIE in dies alles hineinpassen.

Stellen Sie sich den Charakter vor: Hier kommt der schwierigste Teil. SIE sind sind nicht in dieser Grotte, aber es ist dort jemand, durch dessen Augen Sie blicken. Diese Person ist Ihre Spielfigur, ein imaginärer Charakter, den Sie in diesem Spiel darstellen. Normalerweise würden Sie bis zu einer Stunde oder länger damit verbringen, einen Spielcharakter zu entwickeln. Wenn der Charakter einmal entworfen wurde, kann man ihn über viele Wochen, vielleicht Jahre, spielen. Lassen Sie uns in unserem Beispiel annehmen, Sie spielen eine Abenteurerin oder einen Abenteurer, Chorshem mit Namen. Chorshem ist gekleidet in eine Kettenrüstung mit einem dunkelgrünen Umhang um die Schultern, einem prächtigen Schwert an der Hüfte & einer fein gearbeiteten Harfe in Ihrer Ledertasche auf dem Rücken. Sie waren (als Abenteurer/in) bereit, sich auf dieses wagemutige Unternehmen einzulassen, um davon in späteren Liedern zu berichten oder Ihren Ruhm & Ihr Vermögen aus dem Drachenhort zu genießen. Stellen Sie sich nun einfach vor, Sie würden auf dieser Seite der Höhle stehen, gegenüber dem mächtigen, alten Drachen…

Stellen Sie sich die Aktion vor: In Wirklichkeit benötigen Sie noch eine wichtige Zutat, um ein Rollenspiel ablaufen zu lassen – den Spielleiter. Der Spielleiter ist ein anderer Spieler (oder Spielerin, eine reale Person jedenfalls), der alle Nebencharaktere im Spiel kontrolliert, bis auf die verschiedenen Charaktere der SpielerInnen. Er erzählt auch die Rahmenhandlung & hat die Idee für ein Abenteuer vorher ausgearbeitet. Er beurteilt & beschreibt die Auswirkungen der Aktionen der SpielerInnen auf die Umgebung. In unserem Fall sind Sie der einzige Spieler, & ich handele als Spielleiter. „Der Drache scheint zu schlafen & hat Dich, Chorshem, noch nicht bemerkt, wie Du in seinen Hort eingedrungen bist“, informiert Sie der Spielleiter, „aber seine Atmung scheint schneller zu werden, & seine schweren Augenlider zucken unruhig. Langsam hebt sich ein Augendeckel, & ein großes, smaragdgrünes Auge schaut Dich durch die geschlitzte Pupille an.“ Was unternehmen Sie nun?

Als Chorshem haben Sie eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Sollen Sie weiterhin das brotlose Leben eines Abenteurers führen & Ihr Glück in der Flucht suchen? Sollen Sie versuchen, durch einen Trick an den Drachenhort heranzukommen? Oder sollen Sie gar versuchen, einen uralten Drachen zu töten & dabei den Heldentod riskieren? Wie können Sie aus dieser verfahrenen Situation herauskommen? In einem Rollenspiel gibt es keine leichten Antworten, denn alles ist möglich. Die einzigen Einschränkungen sind, daß Sie die körperliche, geistigen & emotionalen Grenzen Ihres Charakters nicht überschreiten (dürfen).

Woher kommen Rollenspiele?
Wie so vieles natürlich aus Amerika. Bereits 1974 wurde das erste Rollenspiel, das mittlerweile legendäre, in viele Sprachen übersetzte & millionenfach verkaufte, in der Bundesrepublik in der 2. Auflage erscheinende „Dungeons&Dragons“ („D&D“ = „Verliese & Drachen“) von dem fantasybegeisterten Gary Gygax in Wisconsin entwickelt. Zur freieren Phantasieentwicklung sind damals wie heute die meisten Rollenspiele in Fantasy- oder Science Fiction-Welten angesiedelt, in denen es noch Drachen und Elfen oder aber Raumschiffe & fremdartige Außerirdische gibt. Erstmals wurde damals Wert auf den Charakter der einzelnen Spielerfigur gelegt, der sich zumeist aus den Eigenschaften Stärke, Intelligenz, Konstitution, Geschicklichkeit, Weisheit & Charisma zusammensetzt. Diese Eigenschaften können auch abweichend bezeichnet werden, im Ergebnis läuft aber auf diese hinaus. Weisheit steht hierbei für den Wissensschatz einer Figur, Charisma für den Charme und das Aussehen des Charakters. Für jede Eigenschaft würfelt man (zum Beispiel) mit drei Würfeln & zählt das Ergebnis zusammen, wodurch Werte zwischen 3 & 18 erreicht werden. 3 ist sehr schlecht, 18 stellt eine extrem überdurchschnittliche Eigenschaft dar. Diese Zahlen gilt es nun mit Leben zu erfüllen, sich das Profil des Charakters vorzustellen & einen passenden Hintergrund & Beruf festzulegen. Jemand mit einem Intelligenz-Wert von 5 könnte also weder schreiben noch lesen & wäre auch sonst eher impulsiv. Eben der Typ, der zuerst handelt & viel später vielleicht denkt. Was ihm allerdings schon erhebliche Kopfschmerzen bereiten würde. Ein weiser, aber dummer Charakter hätte dagegen ein großes Wissen an Götter- oder Heldensagen oder Märchen, könnte sie aber nicht richtig verstehen & kaum wiedererzählen. Ein gewitzter Dieb würde sich durch hohe Werte in Geschicklichkeit & Intelligenz auszeichnen etc. Wie man einen Charakter entwirft, unter welchen Berufen man wählen kann, welche anderen Lebewesen diese Spielwelt beherbergt & viele nützliche Hintergrundinformationen sowie die Spielmechanismen stehen in den Regeln. Die Regeln können knapp dreißig bis zu mehreren hundert Seiten umfassen, doch richtig kennen muß sie eigentlich nur der Spielleiter. Im Laufe der Jahre haben sich viele Nuancen des Spiels entwickelt. Sei es, daß jemand in seiner Fantasywelt keine Hobbits wie in Tolkiens Klassiker „Der Herr der Ringe“ haben mag, oder daß er sein Rollenspiel in einem ganz anderen Genre, wie etwa Science Fiction, Cyberpunk, Wilder Westen oder Horror ansiedelt. Diese unterschiedlichen Entwicklungen, die von Verlagen oder den Autoren selbst herausgegeben werden & auch über den Buch- oder Fachhandel erhältlich sind, nennt man Spielsysteme. Davon gibt es auf deutsch & auf englisch mehrere hundert verschiedene, manchmal sehr interessante, aber auch weniger beachtenswerte Kreationen.

Warum spielen wir Rollenspiele?
Weil sie sehr viel Spaß machen & mit den richtigen Leuten in der Spielrunde nie langweilig werden. Man ist nicht allein vor dem Bildschirm, sondern mit Freunden zusammen & nimmt diese Gelegenheit oftmals zum Anlaß, nach einem Gefecht mit einem Troll, dem Erkunden von mysteriösen Vorgängen in einem alten Landhaus, dem Durchführen von Landungen auf unbekannten Planeten oder dem Plaudern mit einer Waldelfe auch mal ganz „weltliche“ Dinge zu bereden. Bei Rollenspielen gibt es keine Gewinner oder Verlierer: Der Spielleiter fungiert nur als Erzähler, spielt mit den übrigenSpielerInnen, nicht gegen sie. Selbst das klägliche Versagen der Gruppe in ihrem Auftrag kann das für alle sehr erheiternd sein. Rollenspiele haben auch kein Ende. Ein einziges Abenteuer kann sich leicht über mehrere Spielsitzungen hinziehen, und selbst nach Abschluß eines Auftrags kann es im Rahmen der Kampagne fortgeführt werden: Neider machen die Charaktere bei Hofe madig, Diebe stehlen die Belohnung, andere Auftraggeber haben vom Ruhm der Abenteurer gehört, Entdeckungen machen weitere Erkundungen an anderen (unheimlichen) Orten erforderlichen etc., wodurch sich leicht eine Fortsetzung ergibt. Als kleinen Nebeneffekt lernt man mit der Zeit, in der Gruppe zusammenzuarbeiten, Problemlösungen zu erarbeiten & sich in andere hinein zu versetzen. Notfalls kann man sich auch einmal abreagieren, ohne wirklichen Schaden anzurichten. Schließlich kann man seiner Phantasie einmal freien Lauf lassen, & das eben nicht alleine mit dem Buch oder vor dem Bildschirm, mit der Fernbedienung oder der Tastatur, sondern gemeinsam mit Freunden. Manche sprechen gar von einer (neuen) Kunstform: Ein gemeinsames Erzählen, das kreative Ausgestalten eines Romans, doch mit der Vergänglichkeit des Improvisationstheaters im besten Sinne interaktiver Kommunikation.

Wozu einen Verein?
Rollenspielen kann man mit Freunden zuhause, dazu braucht man keinen Verein. Sobald man aber über den Rand seiner Spielgruppe hinausschaut, eröffnen sich völlig neue Dimensionen! Wegen ihrer scheinbaren Komplexität sind Rollenspiele immer eine Art Insider-Spiel geblieben, obwohl auf Rollenspielen basierende Romane einen großen Teil der Fantasy-Veröffentlichungen der großen Taschenbuchverlage ausmachen; verschiedenste Computeradaptionen & Filme gibt es ebenso. Bereits schon 1990 schätzte man die Zahl der aktiven Rollenspieler auf ca. 300.000 bis 500.000 bundesweit. Daß sich manche Gruppen trotzdem ziemlich allein vorkommen, liegt zum Teil an mangelnder Öffentlichkeitsarbeit. Diese Rollenspieler untereinander in Kontakt zu bringen, der Frage „Rollenspiele? Verkleidet man sich da?“ oder gar der Skepsis Uneingeweihter & zum Teil öffentlichen Diffamierung dieser immer noch relativ neuen Spielform gegenüber aufklärend entgegenzuwirken, hat sich unser Verein unter anderem zur Aufgabe gemacht. Arbeitsgemeinschaften widmen sich den vielfältigen Facetten des Rollenspiels wie etwa dem Live-Rollenspiel, dem Organisieren phantastischer Veranstaltungen oder dem Durchführen regelmäßiger, öffentlich zugänglicher Spieltreffs in Hamburg. In den meisten größeren Städten gibt es jährliche oder halb-jährliche Rollenspieltreffen („Cons“), bei denen bis zu 3.000 Gäste gezählt werden. Zwar spielen sie nach wie vor in den üblichen Gruppen von 4 bis 8 Personen, doch lernt man andere Spielsysteme, Mitspieler oder auchSpielleiterInnen kennen, von denen jede/r einen eigenen, unverwechselbaren Stil hat. Und während das vereinte Europa noch zusammenwächst, spielen wir bereits zusammen mit Rollenspielern aus Österreich, der Schweiz, Polen, Italien u.v.a. – Rollenspiele sind in vieler Hinsicht grenzenlos…

Vor fast zwei Jahrzehnten, als „Das Schwarze Auge/DSA“ erschien & „D&D“ gerade auf deutsch herauskam, prophezeiten Händler, daß sich die Szene niemals so entwickeln würde wie in den USA oder England, mit Zeitschriften, Treffen oder Vereinen. Weit gefehlt. Jährlich gibt es es hunderte von phantastischen Veranstaltungen in ganz Deutschland – einige davon werden von Mitgliedern unseres Vereins veranstaltet. Daneben gibt es noch verschiedene andere regionale und überregionale Vereine… – wir bringen Jugendliche in Kontakt miteinander.

Auch wenn manche Eltern nicht verstehen, wie ihre Spößlinge so viel Zeit für ein Spiel „vergeuden“ können; Rollenspiele sind ein phantastisches Phänomen für sich, & wir hoffen, daß Sie einen kleinen Einblick in diese Welt bekommen konnten. Für weitere Fragen und Informationen steht Ihnen „Die Loge“ e.V. gerne zur Verfügung.

1. Auflage: Rollen- und Simulationsspiel Verein „252“ e.V., Frankfurt am Main (1990)
2. Auflage: „Die Loge“ e.V., Ahrensburg/Hamburg (www.die-loge-ev.de),
c/o Christian Fleischer, Walddörferstraße 182, D-22047 Hamburg, 0 40/69 64 07 14 (2001)